Im Januar 1919 wurde die Deutsche Nationalversammlung gewählt, welche am 31. Juli 1919 die Weimarer Verfassung unterzeichnete. Deutschland war nun eine Republik nach freiheitlicher, demokratischer Rechtsordnung. Genau 100 Jahre später, am 31. Juli 2019, erlebte eine deutsche Bürgerin den Schlußpunkt der Rechtsstaatlichkeit in der zweiten Republik, der Bundesrepublik, mitgeteilt von der sehr jungen Richterin Östar in Bielefeld. Es ging um die vorzeitige Entlassung einer angeblichen Holocaustleugnerin aus dem Gefängnis. „Angeblich“ deshalb, weil die Angeklagte bei ihren Prozessen stets erklärte, sie hätte den Holocaust nie geleugnet. Sie wolle wissen, wo er stattfand (…).
Die JVA mußte hierzu ihre Stellungnahme abgeben. Sie lehnte die Freilassung ab, mit der
Begründung, daß „eine Mißbrauchsgefahr nicht ausreichend auszuschließen“ sei. In der Regel
handelt es sich bei im Gefängnis einsitzenden Straftätern um kriminelle Straftäter. Werden
solche gefragt, warum sie in Haft seien, dann nennen sie eine materielle Straftat: Mord,
Totschlag, Diebstahl, Betrug, Drogen etc.
Wie sieht das aber bei einem Äußerungsdelikt aus, war meine Überlegung? Da würde die
entsprechende Antwort die Wiederholung der Straftat sein. „Ich kann ja nicht einfach lügen.
Ich kann mir ja nicht einfach eine Straftat ausdenken. Das kann von einem normal
empfindenden Menschen ja wohl nicht als strafbarer Mißbrauch gewertet werden?“
Und was antwortet auf diese konkrete Frage die Richterin Östar? – „Doch natürlich“, sagte
die junge Richterin. „Das ist doch eindeutig eine Wiederholung Ihrer Straftat.“
„Aber ich bitte Sie, wollen Sie mich zwingen zu lügen?“
„Nein“, kam es sofort von Frau Östar. „Sie können doch völlig straffrei sagen, sie seien nach
dem Paragraphen Volksverhetzung verurteilt worden, das ist doch nicht strafbar.“
„Aber auch wirklichkeitsfremd“, entgegnete ich.
„Dann wiederholen Sie die Straftat.“
„Der Frager will doch nicht den Namen des Paragraphen wissen, nach dem ich verurteilt
wurde, sondern wofür.“
„Dann wiederholen Sie die Straftat. Das ist doch eindeutig, und das ist nach dem Gesetz
strafbar“, erklärte Richterin Östar bestimmt, „das wäre Mißbrauch des Freigangs“.
Ich war sprachlos. Ich hatte erwartet, daß die Richterin das sehr energisch ablehnen würde,
und nun? Das war das offiziell erklärte Ende der Gültigkeit von Art. 5 des Grundgesetzes, das
Ende der Meinungsfreiheit und darüber hinaus auch die Aufhebung des Rechtsgrundsatzes
nach Art. 103, Abs. 3, „Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen
Strafgesetze mehrmals bestraft werden.“ Also darf niemand zweimal für dasselbe bestraft
werden. In diesem Fall war es eindeutig dasselbe, das ist bei einem Äußerungsdelikt gar nicht
anders möglich.
Fassen wir zusammen: Wird ein Straftäter gefragt, warum er inhaftiert wurde, dann nennt er
irgendeine kriminelle Tat. Die Begründung für eine Mißbrauchsgefährdung besteht bei
Freilassung in der vermuteten Wiederholung dieses Gewaltverbrechens. Wird ein wegen eines
Äußerungsdeliktes inhaftierter Bürger gefragt, warum er inhaftiert wurde, dann nennt er die
von ihm gemachte strafbare Äußerung, weil diese seine Straftat ist, und hat damit Mißbrauch
begangen? Da diese Äußerung eben seine Straftat ist?
Das ist in einer Demokratie mit Meinungsfreiheit unmöglich. Es ist aber auch generell
unmöglich. Der Inhaftierte kann ja nicht einfachen sagen, weil er Äpfel gestohlen habe. Das
heißt, daß es bei einem Äußerungsdelikt keinen Mißbrauch geben kann. Das geht zudem auch
nicht, weil niemand zweimal für dieselbe Tat bestraft werden kann nach Art. 103, Abs. 3
Grundgesetz.
An diesem Beispiel wird auch deutlich, wie entscheidend und unverzichtbar das unbedingte
Festhalten an der Meinungsfreiheit für einen Staat, der sich Demokratie nennt, ist. Es ist dabei
völlig belanglos, ob jemand eine falsche oder richtige Meinung vertritt. Diese kann nur
überzeugend widerlegt werden, aber nicht strafbar sein.
Das ist ein Kennzeichen von Diktatur.
Ursula Haverbeck